Mat Callahan     The Duet Contact Downloads Guestbook
         
News Music Words Pictures
     
         
 

bernsehen

bernsehen bilder & texte
25 Bilder von Raoul Ris und Texte von 25 Schreibenden
Bern, 2010
dachsart
ISBN-13: 978-3-033-02644-5

 

Schein und Wirklichkeit
Beitrag im Buch "bernsehen", 2010

Wir schauen uns ein Bild an.

Das Sonnenlicht tanzt auf einer Trennscheibe an einer Tramhaltestelle. Die Spiegelungen verwandeln das Fenster in einen Spiegel, feste Objekte in Erscheinungen, ein einfaches Bild in ein Rätsel. Eine Verschwörung von Photonen verhüllt genau so wie sie beleuchtet, uns ein Rätsel zu enthüllen einladend. Wenn unsere Augen uns enttäuschen, ist der Verstand herausgefordert. Was ist und was ist nicht? Dieses Licht, diese Malfarbe, diese Flächen, sind die Materie dieser Erscheinungen. Sie sind dessen Elemente. Aber in Sache Erscheinungen stossen wir auf Fehler und die Korrektur, Illusion und das Aktuelle, das Echte und das Gefälschte, das Falsche und das Wahre. Es gibt da Monster und Messias, Demagogen und Befreier, Hochstapler und Philosophen – jeder hat seine Maske, Sachen sind nicht was sie erscheinen. Zudem ist es wie Lenny Bruce einmal gesagt hat „Es ist nicht weil ich paranoid bin, dass dies bedeutet das mich niemand verfolgt.“

Es gibt auch diesen Paradox. Im selben Moment wie das Auge getäuscht wird, sieht es auch das gewöhnliche, alltägliche Vorkommnis. Leute tun etwas. Sie warten. Alle ihre Sehnsüchte, alle ihre Unzufriedenheit sind da an diesem Anlegeplatz vereint. Sie mögen auf ein Wunder warten aber sie werden sich mit einem Tram begnügen. Das Bild besteht auf diesen Ort, diese Örtlichkeit. Obwohl es überall sein könnte, muss es doch irgendwo sein. Und in dieser Örtlichkeit warten die Leute. Dieses Warten, eingefroren wie es ist in einem statischen Bild, entlädt ein innewohnendes Potenzial. Etwas wird geschehen. Dies Bild muss sich auflösen, es kann nicht ewig so weiter gehen, es muss sich ändern. Aber dieses Bild drückt sich durch eine Umkehrung, gar einer Subversion, der formal enthaltenen Darbietung aus. Ein fixiertes Bild eines Ortes erzählt die Geschichte einer Bewegung, vom Bewegen von einem Ort zum Nächsten. Niemand wartet an einer Tram Haltestelle um das Warten zu erfahren. Sie kommen zu diesem Ort, um ihn zu verlassen, nicht um zu bleiben.

Das könnte alles sein, was zu sagen ist und möglicherweise mit etwas Melancholie mögen wir dieses Bild verlassen, diesen Kleinstadt-Blues, nur an die sinnlosen Irrungen des Alltags denkend. Es ist ja so, das Trams nur im Kreis verkehren, ihre Runden innerhalb den Grenzen einer Stadt drehen. Sie gehen nie irgendwo anders hin als zurück zu ihrem Ausgangspunkt. Ausser das eine. Eine zentrale Figur fängt unsere Aufmerksamkeit ein. Diese Figur steht in den Schatten und den Spiegelungen, eine Tasche voll mit irgend etwas tragend. Vielleicht sind es Blaupausen eines Gebäudes, vielleicht Pamphlete welche eine Veranstaltung ankünden, vielleicht ist es das Mittagessen. Was uns mehr betrifft, ist das diese Figur der Botschafter sein könnte.

In jeder Situation, in jeder Örtlichkeit, in jedem Warten, gibt es einen Botschafter. Es ist nicht nötig, dass wir sofort die Botschaft wissen. Was nötig ist, ist dass wir für den Moment leben. Dass wir für dieses unvorhersehbare aber unausweichliche Ereignis bereit sind. Dass wir aufmerksam sind. Es könnte Archimedes sein, es könnte Galileo sein, es könnte Einstein sein. Es könnte Arthur Rimbaud sein, Isadora Duncan oder Berchtold Brecht. Es könnte ein Mann oder eine Frau sein, ein Mathematiker oder ein Dichter aber der Botschafter wird da sein. Da, wo wissenschaftliche Erkenntnis und schöpferische Kraft sich treffen. Es wurde ein erkenntnistheoretischer Durchbruch genannt. Es wurde ein Paradigmawechsel genannt. Aber es wird sich ereignen. „Alles was wir gelernt werden, ist falsch“ – wie Rimbaud mal sagte –prägt sich plötzlich in unseren Geist ein, uns urplötzlich von passiven zu aktiven Beobachtern verwandelnd. Leute müssen sich entscheiden. Eine Kluft öffnet sich zwischen vorher und nachher. Wie können wir hoffen der Verlegenheit auszuweichen in einem Universum unendlicher Möglichkeiten? Ist der einzige Zweck unseres Lebens derjenige der Langeweile auszuweichen?

Vor dem Wissen kommt immer eine Frage. Jede Frage ist ein Bruch der Kontinuität, der Gewohnheiten des Denkens, der Bequemlichkeit des Annahme. Jede Frage unterbricht die öden Wiederholungen der gedankenlosen Bewegungen die wir durchgehen, als ob wir lebten. Der Botschafter ist die Frage.

Vor langer Zeit wurde beobachtet dass das Zentrum überall ist und dass der Umfang nirgendwo ist. Wir gehören hierher ist daher der Ausgangspunkt zu jeder Befragung, zu jedem Versuch die Maske des Erscheinens durchzubrechen. Egal wie es erscheint ist alle Materie für immer in Bewegung. Aber Relativität ist nicht Relativismus – Einsteins Entdeckung ist wahr und ist ein Führer. Wir gehören zusammen ist daher unser Kompass, um durch die Illusion der gefrorenen, unbeweglichen Objekte, der Statue, des Denkmals, des Grabes zu sehen. Egoistische materielle Besitztümer sind ein Spassverzehrspiegel, welcher uns zu einer verzweifelten, pausenlosen Jagd nach einem leeren Gefäss treibt, welches unauslöschbaren Durst erzeugt. Es ist der Trostpreis für ein einsames Leben. Wir sollten uns mindestens mit Betrugsmelder bestücken. Glück und Gesundheit hängen davon ab. Ja mehr noch, jeden Zweck den wir erstreben hängt allein davon ab, ob wir die Aufgabe unternehmen. Wo können wir die Werkzeuge finden, um dies zu machen?

Ich kann die Grundsätze der Gleichsetzung des Pythagoras anregen, zum Beispiel dass Gerechtigkeit Freundschaft ist und dass Freundschaft Gegenseitigkeit und Gleichheit ist. Ich kann auf Badious materialistische Dialektik deuten. Aber dies sind nur meine Vorschläge. Wir müssen in jedem Fall wählen. Wir können wählen, die Frage auszulassen und hoffen dass sie verschwindet. Wir mögen wählen ihr Beachtung zu schenken und uns auf ein Abenteuer begehen. Wir können wählen ihr Widerstand zu leisten, sie als Wahnsinn oder ungeheuerlich zu bezeichnen. Aber wir müssen wählen. Und zu wählen ist zu handeln. Und für das Handeln gibt es kein Alibi.

Wir kennen eines: den Maler. Wir kenne etwas anderes, dass der Maler Vorstellungskraft hat. Wie sonst wäre die Sache mit der Erscheinung - des Lichts, der Malfarbe, der Flächen – alles zu einer Malerei entstanden? Wie könnte es überhaupt eine Erscheinung geben? Wir müssen es uns vorstellen oder wir sind blind.

Aber dies ist nicht alles. Der Maler erinnert uns an etwas dass wir seit mindestens 17’000 Jahren kennen, seit der Zeit als die Lascaux Malereien gemacht wurden. Was wir sehen, müssen wir ausdrücken. Auch wenn das Wort einfältig ist, der Verb ist ein Befehl: Male!

 Linie